Predigt zu Jesaja 29, 17-24 am 12. Sonntag nach Trinitatis
Geschafft haben es im Leben nicht die, die in der Welt etwas erreicht haben und vielleicht ganz oben angekommen sind,
sondern geschafft haben es die, die bei Gott angekommen sind.
Es tut gut und befriedigt, wenn man etwas erreicht hat und auf seiner Lebensleiter ein bisschen weiter nach oben gekommen ist.
Das Examen in der Tasche, vielleicht noch einen Titel oben drauf, die erste feste Anstellung und dann weitere Positionen auf der Karriereleiter, Macht und Einfluss haben, um selbständig Entscheidungen zu fällen, ein gutes Gehalt und ein gefülltes Sparkonto. Das ist doch alles etwas, womit man etwas anfangen kann. Wenn wir ein bisschen bescheidener sind, dann sind wir schon mit einem eigenen Haus und einer guten Familie zufrieden.
Wir können das ruhig zugeben, dass wir nicht abgeneigt sind, von allem etwas mehr zu haben. Ein paar hunderttausend mehr auf meinem Konto fände ich nicht schlecht und Macht und Einfluss tut einfach gut. Vor einiger Zeit lernte ich einen Entwicklungshelfer kennen, der große Projekte geleitet hatte. Zurück in Deutschland musste er in einer Berufsschule für jede Kopie um Erlaubnis fragen. Er empfand es als demütigend und nicht leicht zu ertragen. Wer würde auch schon gerne mit ihm tauschen?
Bei manchen jungen Kollegen von mir konnte ich beobachten, wie sie bei ihrer Ordination mit verklärtem Blick dastanden, so als würden sie durch die Ordination in einen gehobenen, heiligen Stand kommen. Fühlen wir uns nicht auch geschmeichelt, wenn die, die oben sind, uns das Gefühl geben, zu ihnen zu gehören, wenn sie uns kennen und sich freuen, uns zu sehen. Wie sagt man so schön: „Oben ist die Luft zwar dünner, aber auch frischer.“
In Israel zur Zeit Jesajas gab es auch eine Gruppe von Menschen, die es geschafft hatten. Wir lesen nun, was Gott durch Jesaja dazu sagt:
17 Nur noch ganz kurze Zeit, dann verwandelt sich der abgeholzte Libanon in einen Obstgarten und der Obstgarten wird zu einem wahren Wald. 18 Dann werden selbst Taube hören, was aus dem Buch vorgelesen wird, und die Blinden kommen aus ihrer Nacht hervor und können sehen. 19 Für die Geringen wird der HERR eine Quelle ständig wachsender Freude sein, und die stets Benachteiligten werden jubeln über den heiligen Gott Israels. 20 Dann ist es aus mit den Unterdrückern und den frechen Spöttern. Ausgerottet werden alle, die Böses im Schilde führen, 21 alle, die andere zu Unrecht beschuldigen, die einen Richter daran hindern, Recht zu sprechen, und den, der Recht sucht, mit haltlosen Begründungen abweisen. 22 Darum sagt der HERR, der Abraham gerettet hat, zu den Nachkommen Jakobs: »Israel soll nicht länger enttäuscht werden und sich schämen müssen. 23 Wenn ihr seht, was ich in eurer Mitte tun werde, dann werdet ihr mich ehren, mich, den heiligen Gott Jakobs; ihr werdet alles tun, um mir, dem Gott Israels, nicht zu missfallen. 24 Dann kommen die, die ihren klaren Kopf verloren haben, wieder zur Einsicht und die Aufsässigen nehmen Vernunft an.«
Oben angekommen!
Sie waren oben angekommen: Macht, Einfluss, Reichtum und vieles mehr hatten sie in Fülle. Aber als sie oben waren, taten sie alles, um auch oben zu bleiben. Was sie erreicht hatten, nutzen sie für ihre eigenen Zwecke: Sie unterdrücken andere, spotten über Gott und die Welt, führen Böses im Schilde, beschuldigen andere ohne Grund und sorgen dafür dass die, die Unrecht leiden, kein Recht bekommen. Und da sie zusammenhalten, kann keiner etwas gegen sie unternehmen. Sie haben es wirklich nach oben geschafft. Kommt uns das irgendwie bekannt vor?
Aber da kommt Gott und sagt: All das, was ihr erreicht habt, nützt euch gar nichts mehr, denn ich zerstöre es. Was für ein Schock!
Nun kann man sagen: Das war schlimm für die damals und wäre schlimm für die, die heute oben sind, aber uns selbst betrifft das doch nicht. So schlimm sind wir nicht! Das bin nicht ich! Das mag sein, weil wir es nicht nach ganz oben geschafft haben, sondern nur auf eine mittlere Ebene, aber die Versuchung ist auch bei uns da, Freunde oder Menschen, die uns noch einmal nützlich sein können, oder die da oben anders zu behandeln als unsere Gegner oder unbedeutende Menschen; für den eigenen Vorteil oder den Vorteil der Freunde es nicht ganz so genau zu nehmen. Diese Versuchung ist menschlich – und wir sind Menschen, oder …?
Nun gibt es in unserer Geschichte noch die andere Seite. Zu denen sagt Gott: Ich werde euch hochheben und retten.
Ich werde für euch da sein und volles Leben schenken. Die Tauben werden die gute Botschaft Gottes hören. Die Blinden werden sehen und erkennen. Gott selbst wird die Quelle wachsender Freude sein. Sie werden jubeln über Gott, Gott ehren und alles tun, um Gott zu gefallen.
Diese Menschen stehen im Wirkungskreis Gottes, unter seinem Schutz und Segen. Sie sind bei Gott. Sie sind angekommen, haben ihren Frieden gefunden bei Gott. Genau das hören wir in der Botschaft Jesu: Er lädt uns ein, in den Wirkungskreis Gottes einzutreten. Er öffnet die Tür und erzählt uns, was wir da alles erfahren können an Liebe, Geborgenheit, Segen, Hoffnung, Treue, Zuversicht, Liebe und vieles mehr.
Die Botschaft unseres Textes aus Jesaja heißt eindeutig: Geschafft haben es im Leben nicht die, die in der Welt etwas erreicht haben und vielleicht ganz oben angekommen sind, sondern geschafft haben es die, die bei Gott angekommen sind, in Einklang mit ihrem Vater im Himmel leben können.
Heißt das nun, dass „in der Welt etwas erreichen“ und „mit Gott in Einklang leben“ ein Widerspruch ist, also beides nicht geht?
Nein! Das muss kein Widerspruch sein, aber die Frage ist: Worauf ist unser Herz ausgerichtet? Was ist unser Sehnen und Verlangen? Was wollen wir zuallererst erreichen? Wenn wir meinen, wir haben es geschafft, wenn wir in der Welt vorankommen, dann leben wir in der Gefahr, dass wir von den Gesetzen, die in der Welt gelten, aufgesogen werden. Und je weiter wir oben ankommen, desto größer ist die Gefahr. Genauso ist es, wenn wir nach weltlichen Maßstäben wenig erreicht haben und darunter leiden und meine, unser Leben wäre erfüllter, wenn wir mehr erreicht hätten. Wenn unser Sehnen und Verlangen aber darauf ausgerichtet ist, mit Gott verbunden zu sein, dann wird es unser Wunsch sein, mit all den Dingen, die wir in der Welt erreicht haben, was wir haben an Position, Geld, Macht, Familie, Haus, usw. im Einklang mit Gott umzugehen. Und je mehr wir haben, desto größer wird unsere Verantwortung.
Wonach wir uns ausstrecken, das ist keine Frage des religiösen Gefühls, sondern der täglichen Entscheidung.
Wenn ich morgens aufstehe, kann ich mich entscheiden, in welche Richtung mein Leben gehen soll; wenn plötzlich Sorgen und Probleme auftauchen, kann ich mich entscheiden, ob sie Macht über mich bekommen oder ich sie an Gott abgebe; wenn alles glatt läuft, kann ich mich entscheiden, leichtfertig an Gott vorbeizugehen oder die Beziehung zu ihm zu vertiefen. Meine Entscheidung bestimmt darüber, was mich anfüllt, welcher Geist mich bestimmt, wie ich mich verhalte, wie ich mit Sorgen fertig werde, wofür ich Zeit und Kraft aufwende. Denn beides ist für mich da, wartet darauf, mich zu bestimmen: die Gesetzmäßigkeiten in der Welt und die frohmachende und befreiende Botschaft des Evangeliums
Lassen Sie mich noch etwas hinzufügen:
Einige haben in den letzten Monaten erlebt, dass all das, was sie in ihrem Leben erreicht hatten, plötzlich ins Wanken geriet, in Frage gestellt war. Andere haben es schon früher erlebt. Ich will von mir erzählen: In der ersten Urlaubswoche diagnostizierte der Arzt bei mir eine Ablösung der Netzhaut, die zur Erblindung führen kann. Noch am selben Abend musste ich ins Krankenhaus und wurde gleich am nächsten Morgen operiert. Ich wusste nicht, ob ich auf dem Auge erblinden oder wieder würde sehen können. Die folgende Behandlung und Genesung ohne Lesen, Schreiben und Autofahren dauerte vier Wochen. Ich war zuerst geschockt: Was wird dann aus meiner Arbeit, die ich liebe, und meine Stellung, meine Unabhängigkeit, Lesen, Autofahren, usw. Zunächst haderte ich mit Gott, habe mit Gott gekämpft, aber dann wurde mir klar: Irgendwann werde ich alles, was ich in dieser Welt erreicht habe und habe, abgeben müssen. Das ist das Gesetz der Natur. Ich muss lernen, es zu akzeptieren. Viel schlimmer aber wäre es, wenn ich die Gewissheit verlieren würde, dass Gott mich liebt, ich sein Kind bin und zu ihm gehöre, denn das trägt mich durch. Denn das, was er mir in Jesu anbietet, ist einfach das Schönste und Wunderbarste.
Es ist nicht schön, krank, arm oder einsam zu sein, aber das habe ich nicht immer in der Hand. Aber ich habe es in der Hand, mich nach Gott auszustrecken und alles dafür zu tun, dass die Gewissheit, dass er mich liebt und trägt und am Ende in seine Ewigkeit aufnimmt, mir gilt. Und deshalb möchte ich Sie ermutigen, dass Sie sich jeden Tag entscheiden, dass sie Ihr Sehnen und Verlangen danach ausstrecken, mit Gott in Einklang zu leben. Denn eines steht fest und ist die Grundlage: Er wendet sich uns zu. Er ist uns barmherzig, Er liebt uns und sehnt sich nach uns.