Rechtfertigungslehre – gestern und heute

A Kurze Darstellung der verschiedenen Rechtfertigungslehren

Die „Rechtfertigungslehre“ wird immer mit der Reformation Martin Luthers in Verbindung gebracht. Dabei haben auch die katholische Kirche und fast alle Religionen eine Rechtfertigungslehre, nur eben eine andere.
Es geht um die Frage, auf welche Weise ein Mensch vor Gott als gerecht und gut angesehen wird, so dass Gott ihn annimmt und in seine Ewigkeit, in den Himmel aufnimmt? Entsprechend einem urmenschlichen und urreligiösen Empfinden heißt die Antwort in den meisten Fällen: Ich muss mich bemühen und wenn ich gut genug bin, dann wird Gott mich als gerecht ansehen oder als Gegenleistung für meine Bemühungen den Rest vergeben.

Die Wege der menschlichen Bemühungen, Gott gnädig zu stimmen, kann man in vier Grundtypen einteilen. Sie tauchen in fast allen Religionen mehr oder weniger auf.

  1. a) Moral: Auf diesem Weg versucht der Mensch entsprechend den ethischen Grundsätzen seiner Glaubensrichtung, bzw. Religion, die er als göttliche Forderungen ansieht, zu leben.
    b) Ritus: Zum Ritus gehören zum Beispiel festgelegte gottesdienstliche Handlungen, vorformulierte heilige Gebete, rituelle Schlachtungen und religiöse Reinigungen wie „Waschungen“ vor einem Gottesdienst.
    c) Opfer: Meistens wurden Tiere geopfert, aber in alten Religionen gab es auch Menschenopfer. Damit sollte eine gnädige Zuwendung Gottes und Sündenvergebung erreicht werden. Für manche Menschen dienen auch Opfer an Geld und Zeit diesem Zweck.
    d) Mystik: Zum Beispiel durch Gebet und Meditation versucht der Mensch auf diesem Weg, sich Gott anzunähern oder zu einer Einheit mit Gott zu kommen.
    Alle diese Wege sind Bemühungen des Menschen, durch die er sich Gottes Anerkennung und Segen und nach dem Tod die Aufnahme in den Himmel erhofft. Sie sind alle abhängig vom richtigen Verhalten des Menschen.

Die neutestamentliche Botschaft, die Martin Luther wiederentdeckt und in seiner Botschaft von der „Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade“ hat zusammengefasst hat, sieht einen entgegengesetzten Weg:

Jesus Christus hat durch sein Leben, Leiden und Sterben alle Forderungen Gottes erfüllt Er hat immer in der vollen Gemeinschaft mit Gott gelebt und in seiner Auferstehen wurde diese Einheit bestätigt. Nun schenkt er uns sein vollkommenes Leben und bietet uns sein erneuerndes Wirken an uns an. Es ist keine „billige Gnade“, durch die alle Menschen automatisch in den Himmel kommen, sondern wir sollen ihm glauben, ihm vertrauen, ihm dafür unser unvollkommenes Leben anvertrauen und ihm folgen, damit er an uns wirken und uns im Sinne Gottes verändern und erneuern kann. Wir müssen offen sein für sein Wirken und es im glaubenden Vertrauen annehmen. Aus Dankbarkeit und Liebe zu Jesus wächst dann in uns der Wunsch, mit unserem Leben etwas für ihn zu tun.
Martin Luther hat seine neu gewonnene Erkenntnis mit den Begriffen sola escritura (allein die Schrift), sola gracia (allein die Gnade), sola fide (allein der Glaube) und solus cristus (allein Christus) zusammengefasst.

Die katholische Lehre von der Rechtfertigung liegt zwischen dem Weg der menschlichen Bemühungen und der Erkenntnis Martin Luthers.

Nach Ihrer Auffassung sind die Verdienste Jesu Christi und der Heiligen der Kirche aus lauter Gnade geschenkt worden. Die Kirche in Form des Klerus und der geistlichen Hierarchie vom Papst bis zum Priester verwaltet diese Gnadengaben der Verdienste Jesu Christi und der Heiligen. Der Christ erhält daran Anteil durch die Riten wie zum Beispiel die Sakramente und durch ein kirchengemäßes moralisches Verhalten.

B  Ein paar Folgerungen aus der lutherischen Rechtfertigungslehre

  1. Wir müssen uns vor Gott verantworten. In der Ethik ist Gott die letzte Instanz. Wenn Gott nicht die letzte Instanz ist, wird es etwas anderes, z. B. die Öffentlichkeit, der Staat oder in einer Anarchie jeder selbst.
  2. Es geht bei der Ethik nicht um einen Lohn, den ich einfordern kann, sondern um die Liebe, die selbstlos handelt.
  3. An erster Stelle steht Gottes Zuwendung, Gottes Bemühen um mich, nicht mein Bemühen um Gott. Gottes Zusage heißt nicht: So, wie du bist, bist du in Ordnung, sondern: Weil ich dich liebe, sehe ich in dir das, was du sein kannst: mein Kind, mein Werkzeug, mein Stellvertreter in der Welt.
  4. Glaube ist keine formale Dazugehörigkeit zu einer Organisation oder ein Akzeptieren irgendwelcher Richtlinien, sondern es ist eine lebendige, vertrauensvolle Beziehung zu Gott über Jesus Christus, die sich in dankbarer Liebe ausdrückt.
  5. Die Kirche ist keine heilige Hierarchie als Mittler, sondern eine Gemeinschaft, in der jeder für seinen eigenen Glauben und den Glauben anderer verantwortlich ist.

In den Punkten 2 – 5 unterscheidet sich die lutherische Lehre von der Rechtfertigung von der katholischen Lehre und noch mehr von anderen Religionen.

C  Heutige Verstehensschwierigkeiten

1. Begriffliche Klärung:

Gerechtigkeit

verstehen wir weitgehend im vorreformatorischen Sinn und im Sinn von dem griechischen Philosophen Aristoteles mit der Bedeutung, dass jeder das bekommt, was er verdient und alle gleichbehandelt werden. Ich will es mit einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Wenn jemand in einer Klassenarbeit eine zwei statt einer verdienten vier erhält, sagen die anderen zu Recht: Das ist ungerecht, auch wenn sie selbst gerecht behandelt wurden. So denken wir dann, dass Gott jedem das gibt, was er entsprechend seines Handelns verdient. Im hebräischen und biblischen Sinn bedeutet „Gerechtigkeit“ das umfassende Heil, das Gott herstellen und den Menschen schenken will.

Rechtfertigen:

Wir verstehen es überwiegend im Sinne von Sich-rechtfertigen. Wenn wir uns rechtfertigen, wollen wir deutlich machen, dass wir aus gutem Grunde so gehandelt haben, wie wir gehandelt haben, und man uns deshalb keinen Vorwurf machen darf. Im biblischen Sinn bedeutet „rechtfertigen“, etwas zurechtbringen. Wenn Gott uns rechtfertigt, dann will er uns zurechtbringen, heil machen, in sein Ebenbild verwandeln.

Glaube:

Glaube wird entweder verstanden als „für wahr halten“, „akzeptieren“, auch wenn ich gar nicht richtig dahinterstehe oder als „nicht genau wissen“. Im Neuen Testament bedeutet „Glaube“ aber jemandem glauben, dass er die Wahrheit sagt und mit ihm eine vertrauensvolle lebendige Beziehung eingehen. Es geht darum, dass wir Jesus glauben, dass er die Wahrheit sagt, seinem Wort vertrauen und uns auf eine vertrauensvolle, lebendige Beziehung mit ihm einlassen.

2. Inhaltliche Auseinandersetzung:

Gottesbild:

Manche meinen, in der Rechtfertigungslehre würde ein Bild von einem zornigen Gott gezeichnet, der nur durch Strafe und ein blutiges Opfer zufriedengestellt werden würde. Doch darum geht es nicht! Gott ist nicht Objekt, sondern Subjekt der Versöhnung. Nicht Gott muss versöhnt werden, sondern der Mensch; nicht Gott steht im Krieg mit den Menschen, sondern der Mensch mit Gott. Versöhnung und Frieden findet der Mensch nur in der Liebe, mit der er alles hingeben kann und nichts festhalten muss. Jesus lebt diese vollkommene Liebe, indem er sogar den Himmel aufgibt und auf die Erde kommt und dann noch sein irdisches Leben aus Liebe hingibt. Wer sich diese Liebe von Jesus schenken lässt und lernt, in dieser Liebe zu leben, der findet Versöhnung und Frieden mit Gott.
Auch ist Gottes Zorn kein Widerspruch zu seiner Liebe, denn wer leidenschaftlich liebt, wird zornig, wenn das, was er liebt, zerstört wird. Sonst wäre Gottes Liebe nur Nettigkeit. Und solange der Mensch nicht mit Gott versöhnt ist und in dieser Liebe lebt, zerstört er nicht nur sich selbst, sondern auch die Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zur Natur.

Menschenbild:

Manche Kritiker behaupten, in der Rechtfertigungslehre würde der Mensch als verlorenes, unfähiges und negatives Wesen dargestellt. Doch das ist keineswegs so! Die Bibel hat kein negatives Menschenbild, sondern ein realistisches, was positive und negative Wesenszüge einbezieht. Es geht im biblischen Menschenbild nicht um den moralisch verkommen Menschen, sondern gerade der moralisch hochstehende Mensch steht in der Gefahr, zu vergessen, dass er alles von Gott empfangen hat, zum Beispiel Gesundheit, Kraft, Begabungen und Möglichkeiten. Das biblische Menschenbild ist realistisch in der Frage, wie er mit dem von Gott Empfangenen umgeht; positiv, weil Gott ihm ohne Verdienst so viel schenkt und anvertraut, aber auch negativ, weil der Mensch immer wieder eigene Wege geht und infolge sich selbst und seine Umwelt zerstört. Und weil er sich selbst nicht aus seiner Gottesferne befreien kann, ist er verloren.

Andere unterstellen der Rechtfertigungslehre einen fehlenden Gegenwartsbezug.

Sie meinen, die Frage nach dem gnädigen Gott würde keiner mehr stellen, und wichtiger wären Fragen wie zum Beispiel: „Wie kann Gott das Böse zulassen?“ oder „Wie finde ich einen gnädigen Mitmenschen?“. Meine Erfahrung spricht dagegen. Ich habe immer wieder Menschen erlebt, die sich während ihres Lebens und spätestens im Sterben nach einem liebenden, gnädigen Gott sehnen.

D Einige Gegenwartsbedeutungen der Rechtfertigungslehre

Die Frage nach dem Selbstwertgefühl ist ein zentrales Thema unserer Zeit.

Als Beziehungswesen möchte der Mensch angenommen, akzeptiert werden. Wenn das gelingt, steigert das sein Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein, auch wenn er weiß, dass er nicht vollkommen ist. Die entscheidende Frage ist, was letztlich darüber entscheidet, ob ich annehmbar, akzeptabel und wertvoll bin: meine Mitmenschen, ich selbst oder eine andere Instanz, zum Beispiel Gott, und muss ich es mir bei Gott verdienen oder wird es mir aus Gnade zugesprochen.
Die Frage nach dem Wert eines Menschen wird heute meistens nicht mehr in Richtung Gott gestellt, sondern in Richtung Mitmenschen, Gesellschaft, etc. Die Gesellschaft kann dann entscheiden wie zum Beispiel bei der Abtreibung, der Euthanasie oder der medizinischen Versorgung von Alten und Kranken, ob das Leben lebenswert ist Die grundsätzliche Frage bleibt, ob der Wert eines Menschen abhängt von anderen oder von mir selbst, oder ob sie unabhängig davon vorgegeben ist durch eine letzte Autorität.
Wenn ich weiß, dass Gott mir aus Liebe zu mir einen unverbrüchlichen Wert gibt und er mich um Jesu willen liebt und anerkennt, auch wenn ich unvollkommen bin und in den Augen anderer Menschen keinen hohen Wert habe, gibt mir das Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit unabhängig von anderen Menschen und auch unabhängig von mir selbst.

Es geht nicht nur um das ewige Leben nach dem Tod, sondern auch um den gegenwärtigen Zugang zur Welt Gottes.

Durch meine Rechtfertigung durch Jesus Christus habe ich die Hoffnung auf Gottes Ewigkeit nach meinem Tod, aber ich kann schon jetzt das erhalten, was es in der Welt Gottes gibt, eine nicht versiegende Quelle neuer Kraft, der Liebe, der Weisheit, der guten Orientierung und der Hoffnung.

In der Frage, wie Gemeinde heute leben soll, ist die Rechtfertigungslehre ein ständiges Korrektiv!

Dazu habe ich in dem Artikel „Die Bedeutung der Menschwerdung Gottes für die Praxis der kirchlichen Arbeit“ einiges ausgeführt.

Die Bibeltexte sind überwiegend der Lutherbibel 1984 und 2017 entnommen. Außerdem wird auch die Gute Nachricht verwendet.

Bibelausgaben in verschiedenen Übersetzungen finden Sie bei der Deutschen Bibelgesellschaft